Herausforderung: Ausbildung in Zeiten von Corona
Die Corona-Krise stellt Auszubildende und die ausbildenden Betriebe vor eine neue Situation: wochenlang geschlossene Berufsschulen, verschobene Prüfungen, teilweise Kurzarbeit in den Betrieben. Was heißt das für die Auszubildenden und die laufende Bewerberrunde? Im Interview: Dr. Gerd Hackenberg, Ausbildungsexperte der IHK Lahn-Dill. Er ist Leiter des Bereichs Aus- und Weiterbildung bei der IHK Lahn-Dill. Seit 2004 betreut er mit seinem Team rund 3500 Auszubildende und 800 aktive ausbildende Betriebe im Kammerbezirk an Lahn und Dill.
Fragen und Antworten
Herr Dr. Hackenberg, die Corona-Krise betrifft auch die duale Ausbildung. Wie hat sich die Ausbildungssituation im Bezirk der IHK Lahn-Dill verändert?
GH: Wir hatten eine stabile Ausbildungssituation vor der Krise, dann kamen extreme Veränderungen, zum Beispiel die Verschiebung der Prüfungstermine, die wochenlange Schließung der Berufsschulen, teilweise Kurzarbeit in den Betrieben. Das hat die Azubis, die Betriebe und auch uns vor große Herausforderungen gestellt. So etwas gab es noch nie. Das hat natürlich auch Unsicherheiten bei Eltern und Schulabgängern ausgelöst.
Wie sieht es konkret in den ausbildenden Firmen aus? Viele Betriebe haben Kurzarbeit angemeldet, einige mussten Mitarbeiter entlassen oder gar Insolvenz anmelden. Ist unter diesen Bedingungen eine ordentliche Ausbildung überhaupt noch gewährleistet?
GH: In unserem Kammerbezirk sind uns glücklicherweise bisher nur vereinzelt Fälle bekannt, in denen der Ausbildungsplatz durch Corona gefährdet oder gar verlorengegangen ist. In den meisten ausbildenden Betrieben läuft die Ausbildung weiter – wenn auch teilweise unter besonderen Bedingungen. Aber natürlich, auch bei uns gibt es Fälle, in denen aufgrund des Shutdowns kaum eine normale Ausbildung möglich war. Wir sind dann erster Ansprechpartner für die Auszubildenden und die Betriebe. Im Moment arbeiten wir als IHK mit Hochdruck daran, Lösungen zu organisieren, um Azubis, die ihren Ausbildungsplatz verloren haben, schnell eine Alternative anbieten zu können.
Wie unterstützen Sie konkret die Auszubildenden bei der Suche nach einer (neuen) Stelle?
GH: Um mehr Schwung in die Berufsorientierung zu bringen, hat sich die IHK Lahn-Dill ein ganz neues Format ausgedacht: Am 24. Juni gehen wir mit unserer ersten virtuellen Ausbildungsmesse an den Start. Wie auf der realen Messe auch, können sich Jugendliche hier über Ausbildungsberufe und Berufsbilder informieren und erste Kontakte zu IHK-Ausbildungsbetrieben knüpfen – nur online. Vom Praktikum über den Ausbildungsplatz bis hin zum dualen Studium ist alles dabei. Das innovative Angebot eröffnet jungen Menschen auf unserer Plattform www.ausbildung-lahndill.de unter anderem die Möglichkeit, Fragen an die Betriebe vor Ort zu stellen und per Video Ausbilder und Azubis kennenzulernen.
Außerdem bieten wir eine Hotline an, bei der sich Schüler, Eltern, Lehrer und Betriebe zum Thema Berufsorientierung beraten lassen können. Unter der Nummer 06461-9595-1490 stehen IHK-Experten Montag bis Freitag von 8 bis 16 Uhr ab sofort Rede und Antwort.
Wie ist es derzeit um die Ausbildungsbereitschaft in den Unternehmen bestellt? Sind die Betriebe eher zurückhaltend?
GH: Teil, teils. Es kommt ganz auf die einzelne Situation des Betriebes an. Wir haben aber derzeit ein Überangebot von 130 freien Ausbildungsstellen.
130 offene Ausbildungsstellen im Kammerbezirk – fast genauso viele Ausbildungsverträge sind zum Stichtag 31. Mai 2020 weniger abgeschlossen worden als zum vergleichbaren Zeitpunkt 2019. Woher kommt die Zurückhaltung?
GH: Die jungen Menschen und ihre Eltern sind durch die Corona-Krise verständlicherweise sehr verunsichert. Sie fragen sich, ob das ausbildende Unternehmen gut durch die Krise kommt und der angebotene Ausbildungsplatz auch sicher ist. Viele warten deshalb ab. Doch das müssen sie nicht. Im Gegenteil: Wir schätzen die Ausbildungssituation als weiterhin gut und konstant ein, mittel- und langfristig sogar als sehr gut.
Was raten Sie den Schulabgängern jetzt?
GH: Wer jetzt nicht zugreift, verliert mindestens ein Jahr. Abiturienten wie auch Schülerinnen und Schüler aus Fachoberschulen sowie Haupt- und Realschulen, die mittlerweile alle ihre schriftlichen Prüfungen abgelegt haben, sind daher aufgefordert, ihre Zurückhaltung aufzugeben und ihre Bewerbungsunterlagen einzureichen.
Unsere Unternehmen wollen nach wie vor ausbilden und setzen auf die langfristige Entwicklung ihres Nachwuchses. Denn Fachkräfte sind in unserer Region auch weiterhin gefragt. st.