Backland.News
Marburg

Einsatzkräfte: trotz Schutzkleidung entsetzliche Verbrennungen

Im Marburger Squash-Center bricht am 28. April 1995 ein Feuer aus: Es wird zur größten Katastrophe, die die örtlichen Brandschützer bis dahin zu bewältigen haben.
Der Brandunfall zeigt auf entsetzliche Weise, dass die vorgeschriebene Schutzausrüstung der Feuerwehr unzureichend ist. 25 Jahre später sitzt der Schock immer noch tief. Mit Grauen erinnern sich beteiligte Einsatzkräfte an den verhängnisvollen Freitagnachmittag, aber auch daran, was er bewirkt hat: Die Sicherheit der Feuerwehrleute erhält fortan einen hohen Stellenwert.

Feuerwehrleute mit Drehleiter und Korb versuchen, das Feuer zu löschen
Das Feuer entwickelt sich binnen Minuten zu einem Großbrand. Zwei Feuerwehrmänner erleiden dabei schwerste Verletzungen. (Foto: Peter Gimbel)

Eine meterhohe Rauchsäule steigt in den Himmel, Flammen schießen aus Dach und Fenstern. Auf Tragen liegen schwerverletzte Feuerwehrmänner, Hände und Haut sind verbrannt. In der Nähe setzen Rettungshubschrauber zur Landung an: Was anfangs wie ein einfacher Zimmerbrand aussieht, ausgelöst durch einen technischen Defekt, entwickelt sich innerhalb weniger Minuten zu einer Tragödie. Zwei Einsatzkräfte erleiden schwerste Brandverletzungen – ihre Schutzanzüge halten dem Feuer nicht stand. Unter den Eindrücken der Brandkatastrophe wird in der Feuerwehr der Ruf nach besserer Schutzkleidung laut.

„Eine der ersten“

Politik, Feuerwehrverband und Kommunen ziehen mit und beschleunigen die Einführung neuer Schutzanzüge. Die Marburger Feuerwehr wird als eine der ersten Feuerwehren in Hessen mit einer neuen Schutzausrüstung ausgestattet. Feuerwehren in ganz Deutschland sowie in Teilen Europas folgen später diesem Beispiel.

Älterer Mann mit beschädigten Fingern und einem verkohlten Feuerwehrhelm in der Hand
Kohlrabenschwarz: Lothar Schmidt zeigt den Helm, den er beim Einsatz im Squash-Center getragen hat. Dieser ist durch den Brand stark beschädigt worden wie auch Schmidts Hände, die oft operiert werden mussten. (Foto: privat)

„Es war ein ganz normaler Freitag“, erinnert sich Lothar Schmidt, der ehemalige hauptamtliche Gerätewart des Brandschutzamtes der Stadt Marburg. Gegen 12 Uhr hat er Feierabend, doch er entscheidet sich noch ein paar Stunden dranzuhängen. Dass er um 16.53 Uhr mit schweren Verbrennungen von einem Rettungshubschrauber in eine Spezialklinik gebracht werden muss, das ahnt der damals 43-Jährige zu dem Zeitpunkt noch nicht. Kurz bevor sich Schmidt ins Wochenende verabschieden will, geht gegen 15 Uhr ein Notruf auf der Leitstelle Marburg-Biedenkopf ein: „Feuer im Squash-Center“.

Ein „Flashover“

Einsatzkräfte rücken in den Marburger Stadtteil Ockershausen, wo sich das Center befindet, aus. Darunter ist auch Karlheinz Merle, damaliger Stadtbrandinspektor und Chef der Feuerwehr. „Es kam ein bisschen Rauch aus einem Fenster“, erzählt der heute 84-Jährige, der zusammen mit Lars Schäfer, damaliger Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr Marburg-Mitte, den Einsatz am Squash-Center leitet. „Nichts deutete darauf hin, dass es zu einer Rauchgasdurchzündung, einem sogenannten Flashover, und damit zu einer meterhohen Feuerwalze kommen würde“, erinnert sich Merle. Da man sichergehen möchte, dass keine Menschen mehr in dem Gebäude sind, schickt der Feuerwehrchef mehrere Atemschutzgeräteträger ins Squash-Center. Schmidt zählt zu ihnen. Der Auftrag: Menschenrettung und Brandbekämpfung. Merle selbst steigt in den Keller hinunter, um den Gashahn zuzudrehen.

Über 1.000 Grad

Dann passiert es: Rauchgase, die sich in der gesamten Sportstätte ausgebreitet haben, zünden durch, es gibt eine Explosion, riesige Flammen schießen durchs Gebäude. Die Zwischendecke brennt durch und stürzt hinunter. Gutachter stellen später fest, dass beim Flashover zwischen 1.000 und 1.200 Grad Celsius im Squash-Center geherrscht haben müssen. Zwei Feuerwehrmänner, die sich in der Nähe der Fenster befinden, können sich unter der Feuerwalze hinwegbücken. Sie erleiden Rauchgasvergiftungen. Doch Schmidt und sein Feuerwehrkamerad Michael Hagenbring, damals 20 Jahre alt, werden auf der Galerie oberhalb der Centre-Courts von dem Feuer überrascht. „Erst war es totenstill. Der Rauch war so schwarz, dass man nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Dann gab es einen ohrenbetäubenden Knall“, weiß der heute 68-jährige Schmidt zu berichten.

„Überall Flammen“

„Das Feuer ist über mich hinweggerollt, ich sah überall Flammen“, beschreibt er die Feuerwalze. Er habe vor Schmerzen nur noch schreien können. Ähnlich ergeht es Hagenbring. Auch er ist dem Feuer ausgeliefert. Während Schmidt es selbst zum Fenster schafft, die Steckleiter hinunterklettert und sichtlich im Schockzustand zum Rettungswagen geht, kann sich Hagenbring kaum bewegen. „In dem Moment hatte ich mit dem Leben abgeschlossen“, erzählt Hagenbring. Herbeigeeilte Feuerwehrmänner ziehen ihn aus einem Fenster in den Korb der Drehleiter.
Von der nahegelegenen Tankstelle werden Wasserkannen geholt, um seine und Schmidts Brandwunden zu kühlen.

Dachdecker als Retter

Während es vor dem Squash-Center zu dramatischen Szenen kommt, geht es auch auf der Rückseite des Gebäudes um Leben und Tod. Ein Feuerwehrmann, Holger Berdux, kann sich während der Explosion in ein kleines Räumchen im Obergeschoss retten. Der Raum, der als Kopierraum genutzt wird, hat jedoch ein vergittertes Fenster. Der Funk zu seinen Kameraden ist abgerissen. Durch die Tür kann der damals 31-Jährige nicht wieder hinaus. Er ist gefangen. „Ich hatte pures Glück, dass in der Nähe Dachdecker arbeiteten, die zu Hilfe geeilt sind“, erinnert sich Berdux. Dachdeckerseile werden um die Gitterstäbe und an einen Drehleiterwagen befestigt. Als das Fahrzeug Vollgas gibt, werden die Stäbe aus ihrer Verankerung gerissen.

Das war knapp

Berdux rettet sich mit einem Sprung aufs Vordach. Kurz darauf schießt eine Stichflamme aus dem Fenster. „Fünf Minuten später war der Raum komplett ausgebrannt“, erinnert sich Feuerwehrmann Michael Czyrzewski, der für die Wasserversorgung und den Sicherheitstrupp am Einsatzort zuständig ist. „Wäre Holger im Raum geblieben, wäre er bei lebendigem Leib verbrannt“, fügt der damals 29 Jahre alte Czyrzewski mit belegter Stimme hinzu. Wie durch ein Wunder bleibt Berdux jedoch unverletzt.

Leute gaffen als das Squash-Center in Flammen steht
Nach der Brandkatastrophe haben mehrere Kameraden ihren Dienst quittiert. (Foto: Peter Gimbel)

In der Zwischenzeit sind die Rettungshubschrauber Christoph 25 und 28 angefordert worden, die die beiden Feuerwehrmänner Hagenbring und Schmidt in Spezialkliniken nach Aachen und Köln-Merheim bringen. Hagenbring, der kurz vor dem Abitur steht, hat der Flashover besonders stark getroffen. Seine Hautoberfläche ist zu 63 Prozent verbrannt. Auch seine Hände haben schwere Schäden davongetragen. Die Ärzte prognostizieren eine geringe Überlebenschance. Schmidts Hautoberfläche ist zu 40 Prozent verbrannt und seine Hände „verkocht“, wie er es beschreibt. Aufgrund seines Alters werden aber auch ihm nur geringe Chancen eingeräumt. „In den ersten drei Tagen nach dem Unfall stand meine Überlebenschance bei 50/50“, erzählt er heute nüchtern.

„Einige treten aus“

Dass Hagenbring und Schmidt trotz Schutzanzügen so schwer verletzt werden, sorgt in den Tagen nach dem Unfall innerhalb der Feuerwehr sowie in der gesamten Bevölkerung für Entsetzen. Einige Feuerwehrleute quittieren ihren Dienst. Manche Einsatzkräfte werden von ihren Familien aufgefordert, die Feuerwehr zu verlassen. „Es herrschte kaum noch Vertrauen in die vorhandene Schutzkleidung“, weiß Lars Schäfer. Diese besteht damals entweder aus Schurwolle, wie in Schmidts Fall, oder aus schwerentflammbarer Baumwolle, wie Hagenbring sie trug. Dass eine verbesserte Schutzausrüstung nötig ist, davon war der damalige Feuerwehrchef Merle schon Jahre vor dem Squash-Center-Brand überzeugt und setze sich tatkräftig dafür ein. Merle ist sogar mit ihrer Entwicklung vom Landesfeuerwehrverband betraut worden.

Hessen setzt Zeichen

Das Tragische: Zum Zeitpunkt des Unfalls hängen bereits zwei Prototypen der neuen Einsatzkleidung in seinem Büro. Doch die Anzüge gelten noch nicht als genormt, müssen weiterentwickelt werden und kommen daher nicht in den Umlauf. Das ändert sich nach dem Großbrand schnell. Es wird mit Eifer an einer zeitnahen Einführung gearbeitet. Das Land Hessen bezuschusst die Anschaffung mit 16 Millionen D-Mark und setzt damit ein Zeichen.

Feuerwehrleute mit Drehleiter und Korb versuchen, das Feuer zu löschen. Schwarzer Rauch steigt auf
Schwarzer Rauch und meterhohe Flammen: Wegen eines technischen Defekts brach im Marburger Squash-Center am 28. April 1995 ein Feuer aus. (Foto: Peter Gimbel)

„Anfangs sollten nur Atemschutzgeräteträger neu eingekleidet werden“, erinnert sich Merle. Das ist dem Marburger Feuerwehrchef mit etwa 450 Feuerwehrkräften aber zu wenig. „Wir waren sogar bereit, auf unsere Galauniform zu verzichten, wenn dafür jeder einen neuen Schutzanzug bekäme“, unterstreicht der heute 84-jährige Merle die Forderung. Der damalige Oberbürgermeister Möller unterstützt Merle bei seiner Forderung und gibt die finanziellen Mittel frei. Das Stadtparlament stimmt schließlich geschlossen dafür. Ein gutes Jahr nach dem Brand, Mitte 1996, erhält die Marburger Feuerwehr als eine der ersten Feuerwehren in Hessen die neue Schutzausrüstung. Sie besteht aus einem feuerwiderstandfähigem Textilgewebe, das wärme- und hitzeisolierend wirkt. Diese Art von Schutzkleidung wird auch heute noch für Einsätze verwendet.

„Keine Abstriche mehr“

„Wir haben aus dem schlimmen Ereignis gelernt und machen in Sachen Sicherheit bei unserer persönlichen Schutzbekleidung keine Abstriche“, erklärt Carmen Werner, Leiterin der Marburger Feuerwehr.
Der Zustand der beiden schwerverletzten Feuerwehrleute Schmidt und Hagenbring verbessert sich. Die Genesung verläuft anfangs schleppend, unzählige Hauttransplantationen werden vorgenommen. Die Finger werden bei beiden Feuerwehrmännern zum Teil amputiert.
Die Feuerwehr Marburg stellt Besuchspläne auf und gibt einen Mannschaftsbus für Besuchsfahrten frei. Besonders die Möglichkeit, immer wieder darüber zu reden, hilft Schmidt und Hagenbring, das Erlebte zu verarbeiten.

Viel Unterstützung

Aus allen Richtungen erreicht die beiden große Anteilnahme. Hohe Geldsummen werden gespendet. Die Band Screw Loose nimmt ein Lied auf und überlässt der Feuerwehr Marburg den Verkauf der CDs und damit die Einnahmen. Benefizveranstaltungen finden statt. Wirtschaft, Handel und Privatpersonen steuern hochwertige Gewinne zur Tombola bei. Die Kinobetreiber Closmann veranstalten Filmabende mit dem Feuerwehrfilm „Backdraft“. Die Eintrittsgelder gehen an die schwerverletzten Feuerwehrmänner. Ebenso Gelder aus Bußgeldverfahren, die auch heute noch durch das Gericht gemeinnützigen Einrichtungen zugewiesen werden können.

Michael Hagenbring, heute gesund und munter blickt mit einem Lächeln in die Kamera.
„Weder Lothar noch ich hadern mit dem, was uns passiert ist“, fasst Michael Hagenbring (45) heute zusammen. (Foto: Patricia Grähling, Stadt Marburg)

Sobald es geht, kehren Hagenbring und Schmidt wieder zur Feuerwehr zurück. Für Schmidt, der nach dem Unfall weiterhin in der Schlauchwerkstatt beim Brandschutzamt arbeitet, werden eine automatisierte Schlauchreinigungsanlange sowie Greifwerkzeuge angeschafft. Darüber hinaus entdeckt er eine neue Passion: Die Ausbildung der Maschinisten. Er bringt Feuerwehrmännern und -frauen das Fahren der großen Geräte bei.
Bis zu seinem Ruhestand 2014 ist Schmidt beim Brandschutzamt beschäftigt. Danach entschließt er sich mit seiner Frau in den Norden zu ziehen. „Bei einem Besuch im Landkreis Oldenburg, 70 Kilometer von der See entfernt, bemerkte ich, dass ich dort viel besser atmen konnte“, erinnert sich der Hobbykoch. Durch den Brandunfall habe er neben den hochgradigen Verbrennungen auch eine Rauchgasvergiftung davongetragen und damit schwere Atemwegsbeschwerden gehabt.

„Heute viel sicherer“

Michael Hagenbring denkt nur noch wenig an die Vergangenheit zurück. Der 28. April ist für ihn normalerweise ein Tag wie jeder andere, außer in diesem Jahr. Da ist er sich des traurigen Jubiläums durchaus bewusst. Ähnlich wie Lothar Schmidt ist er dankbar, dass die Rettungskette im Anschluss an den Unfall so gut geklappt hat.
Der heute 45-Jährige kehrt zur Feuerwehr zurück, fährt zu Alarmierungen und unterstützt dabei die Einsatzleitung. Eigens für ihn wird ein Einsatzwagen mit Lenkradknauf versehen, damit er trotz der Beeinträchtigung der Hände das Fahrzeug steuern kann. Auch beruflich entwickelt sich bei dem damals 20-Jährigen alles zum Guten. Bei der Stadt beginnt er 1997 eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten. Heute ist er im Straßenverkehrsamt der Stadt Marburg. „Weder Lothar noch ich hadern mit dem, was uns passiert ist“, fasst Hagenbring zusammen. Beide sind mit ihrem Leben zufrieden und glücklich, dass ihre Feuerwehrkameraden durch die verbesserte Schutzkleidung heute sicherer sind als sie es selbst damals, am 28. April 1995, waren.